Anekdoten


"Als die Usenborner einen Spion gefangen nahmen"


Zu Beginn des 1. Weltkrieges, wohl im September oder Oktober 1914, wurde den Großherzoglich-hessischen Bürgermeistereien ein Erlaß zugesandt, auf feindliche Agenten zu achten und wachsam zu sein. Grund dafür war, daß nach der Kriegserklärung im August Spionagetätigkeit für den Feind aufgedeckt wurde und noch einige untergetauchte Spione in Oberhessen vermutet wurden.

Bürgermeister Wilhelm Müller, wegen seines Aussehens und Auftretens auch "Bismarck" genannt, rief unverzüglich seinen Gemeinderat zusammen; um die erforderliche Vorgehensweise zu beratschlagen. Schließlich wollte man in der Heimat seinen Beitrag zu dem glorreichen Kampf beisteuern. Es wurde also beschlossen, im Oberdorf bei "Vogels" die Straße von Hirzenhain und bei "Jegels" die Straße von Gelnhaar mit einer Absperrung und Wachtposten zu sichem. Schon weit vor dem Unterdorf wurde die "Bergheimer Straße" gesichert und die Straße von Ortenberg im Mitteldorf bei "Lapps". In der Gemarkung sollten Beobachtungsposten an strategisch günstigen Stellen aufpassen, damit verdächtige Personen rechtzeitig gemeldet werden und die Bereitschaft im Ort antreten konnte. Zwar waren schon einige der kräftigen jungen Leute zum Militär einberufen worden, doch übernahm der Kriegsveteranenverein, darunter einige gestandene Frontsoldaten des 1870/71er Krieges gegen Frankreich, pflichtgemäß alle Wach- und Beobachtungsaufgaben. Als Hauptquartier wurde das Spritzenhaus eingerichtet und im Backhaus im Oberdorf eine Nebenstelle.

Die Organisation und die Wachsamkeit lohnten sich. Von Ortenberg kommend wurde ein Automobil mit einer sehr verdächtigen Person gemeldet. Der Einsatzstab trat augenblicklich zusammen, um die Taktik festzulegen. Der Wachposten bei "Lapps" wurde angewiesen, sofort die Absperrung wegzuräumen, denn man wollte den Spion in eine Falle locken und ihn mit einem Hinterhalt überraschen und festnehmen. An beiden Usenborner Kirchen wurden die Brandglocken geläutet, um die Mitbürger herbeizurufen. Die kampfeswilligen Bürger wurden von den Veteranen so um die "Unterkirche" verteilt, daß der Spion sie erst im letzten Moment sehen konnte, aber schnell zur Stelle waren, um den feindlichen Agenten dingfest zu machen. Hinter und an der Kirchenmauer stellten sich die Veteranen und einige junge Burschen zum Erstangriff auf.

Die verdächtige Person fuhr auch den Stockberg hinunter in das Dorf und bog an der "Unterkirche" in die Straße am Brunnenbach ein, die damals die Usenborner Durchgangsstraße war. Es zeigte sich nun, daß die Aktion sehr gut vorbereitet war, denn sofort war das Automobil von Menschen umzingelt und das Gefährt mit einer Deichsel hochgebockt und so fahrunfähig gemacht worden. Die verdächtige Person wurde mit Mistgabeln und Dreschflegeln, aber auch mit einigen Büchsen in Schach gehalten. Es wäre wahrscheinlich nicht notwendig gewesen, denn der Schreck über den plötzlichen Überfall stand dem ertappten Spion deutlich im Gesicht geschrieben. Der Agent erwies sich als feiner Herr, gut angezogen mit einem Lodenmantel und, was besonders verdächtig war, einer Pelzmütze auf dem Kopf, die ihn unbestreitbar als einen russischen Agenten auswies. Ganz Usenborn war mittlerweile an der "Unterkirche" versammelt, selbst von der Feldarbeit eilten die Leute ins Dorf, denn bei der Gefangennahme eines Spiones wollte man dabeisein, ihn sich beschauen. Man hatte eben keine Vorstellung vom Aussehen eines Agenten.

Doch wie sollte nun weiterverfahren werden? Die Person konnte nicht mehr entfliehen, also verzichtete man darauf, sie mit den eilig herbeigeschafften Stricken zu fesseln. Erst als der Bürgermeister Müller kam, beruhigten sich die Usenborner. Der Bürgermeister befragte nun die verdächtige Person nach den Personalien und den Tatumständen, doch erntete er von der sich erholten und dreister gewordenen Person nur Schimpftiraden. Der Spion erreichte damit aber nur, daß die Usenborner ihren angegriffenen Bürgermeister ebenfalls mit Schimpftiraden verteidigten. Der stets souveräne Bürgermeister gab seinem Spitznamen "Bismarck" alle Ehre und besänftigte seine Mitbürger und den festgesetzten Agenten. Nachdem er dem Gefangenen erklärt hatte, daß ihm nichts helfen könne und er seine Angaben machen solle, erwiderte der Spion sichtlich niedergeschlagen und entnervt; daß er ein Prinz von Ysenburg-Birstein sei und er beim Grafen Stolberg-Roßla in Ortenberg gewesen sei, um die demnächst stattfindende gemeinsame Jagd zu besprechen. Die Folge war Gelächter der Usenborner und die Bemerkung des Schweinehirten, daß jeder behaupten könne, ein Prinz zu sein, schließlich heiße sein Hund auch "Prinz".

Da der Bürgermeister in seiner zu der Zeit schon über dreißigjährigen Amtszeit schon manchen Sturm überstanden hatte, ließ er den Verdächtigen zur Sicherheit erst einmal ins Spritzenhaus einsperren und dieses und das Automobil bewachen. Nachdenklich geworden eilte er nach Hause. Als Poststellenverwalter verfügte er schon über ein Telefon. Nach langem Hin und Her mit Telefonaten zur Ortenberger Polizeistation und zum Kreisamt in Büdingen wurde er sehr nachdenklich. Der zwischenzeitlich von Ortenberg ankommende Polizeibeamte bestätigte, was der Bürgermeister nach seinen Telefonanrufen vermutete: Die Usenborner hatten tatsächlich einen Prinzen von Ysenburg-Birstein als Spion festgenommen und der war auch wirklich beim Ortenberger Grafen gewesen.

Unverzüglich wurde der "Spion" freigelassen und ihm der Weg zur Weiterfahrt freigegeben. Wenn es auch eine peinliche Geschichte für die Usenborner war, zeigte sich doch, daß die Usenborner, wenn es auf das Wohl des Vaterlandes ankam, wachsam und zur Stelle waren und sich auch von hochgestellten Leuten nicht ins Bockshorn jagen ließen.

So erzählte mein Großvater die Geschichte, als die Usenborner einen Spion gefangennahmen und so, oder zumindest so ähnlich, hat sie sich auch damals zugetragen.

 

aus: Heimat im Bild, Beilage im Kreis-Anzeiger vom April 1994 sowie

Festschrift 100 Jahre Gesangverein "Liederkranz" 1898 Usenborn

Publiziert am: Dienstag, 10. Februar 2009 (14501 mal gelesen)
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